Institut Ramon LLull

MELTING SPACES: Wenn Einschränkungen zu Optionen werden. Ein Text über eine Gesprächsreihe zu Digitalität im kulturellen Bereich und entsprechenden Praktiken

paperllull.  ONLINE, 18/11/2021

Im Dezember 2020 wurden wir, Gila Kolb und Aina Tur, vom Institut Ramon Llull in Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut Barcelona gefragt, ob wir eine transnationale Gesprächsreihe als Online-Veranstaltung kuratieren würden. Diese Reihe sollte der Frage nachgehen, wie Kulturschaffende mit der Notsituation einer globalen Pandemie umgegangen sind und wie sich dadurch die Art und Weise, kulturelle Erfahrungen zu kreieren und zu teilen, verändert hat. Fast ein Jahr nach dieser Beauftragung wird in diesem Artikel zusammengefasst, was wir aus diesen Gespräche, von deren Gästen und vom Publikum gelernt haben und wo wir umgedacht haben. Darüber hinaus möchten wir an dieser Stelle die bei den Treffen und den Debatten aufgekommenen Bedenken und Fragen von Menschen verschiedener Fachrichtungen, Kulturen und Ländern teilen.




MELTING SPACES: Wenn Einschränkungen zu Optionen werden. Ein Text über eine Gesprächsreihe zur Digitalität im kulturellen Bereich und entsprechenden Praktiken.

Das Kuratieren selbst war bereits ein Lernprozess, da wir beide einen ganz unterschiedlichen Hintergrund haben: Gila Kolb ist eine forschende Kunstpädagogin, die in Deutschland und in der Schweiz lebt.

Aina Tur ist Schriftstellerin und Kulturagentin mit Wohnsitz in Spanien. Wir vertreten komplementäre Ansätze zu den selben Themenbereichen, und wir haben gemerkt, dass wir dies in die Veranstaltungen einfließen lassen sollten. Natürlich war das auch ein wichtiger Aspekt bei der Auswahl der Gäste.

Deshalb wollten wir unterschiedliche Sichtweisen und ausgewählte Stimmen aus den Bereichen Kunsttheorie und Digitalität, institutionelle und individuelle Kulturschaffende sowie Künstler*innen und Kreative zusammenbringen. Wir wollten einen Raum zum Gedankenaustausch für in der Kulturszene tätige Menschen anbieten, die (nicht) wissen, wie sie mit dieser neuen Situation inmitten einer Pandemie und deren lokalen und globalen Einschränkungen umgehen sollen. Die Veranstaltungsreihe sollte dazu dienen, bestimmte Logiken im Bereich der performativen Künste und deren Beziehung zu Digitalität und öffentlichem Raum zu verstehen.

Folglich war für es wichtig, zu verstehen, was war und was gerade ist, und sich gleichzeitig aktuellen und künftigen Projekten zuzuwenden, neue zu verfolgende Linien auszumachen und etwas über von anderen genutzte Tools und Strategien zu erfahren. Kurz gesagt: Gibt es neue Wege für kulturelle Erfahrungen in digitalen oder hybriden Formaten? Oder geht es vielmehr um die Wiedergabe bereits vertrauter Erfahrungen auf eine neue Art und Weise?

Nach zahlreichen Online-Meetings und produktiven Diskussionen haben wir entschieden, dieses ziemlich komplexe Unterfangen im Titel der Gesprächsreihe zum Ausdruck zu bringen: MELTING SPACES. Wenn Einschränkungen zu Optionen werden. Mit dieser Überschrift möchten wir darauf hinweisen, dass aufgrund der durch COVID-19 entstandenen Situation Künstler*innen, Kuratoren*innen, Forscher*innen und Kulturinstitutionen mehr denn je die Grenzen zwischen dem digitalen und dem öffentlichen Raum und den traditionellen Formen des Zusammenkommens zum Teilen einer kulturellen Erfahrung aufgelöst haben.

Wir haben uns deshalb entschieden, dieser Begegnung eine positive Ausrichtung zu verleihen, was bedeutet hat, den Fokus von dem, was verloren war, nämlich die geteilte Erfahrung, auf die Möglichkeiten zu lenken, die diese Situation bietet. Ziel dieser Entscheidung war es, Raum für eine Debatte mit drei verschiedenen Sichtweisen zu bieten: wie wir aus der Situation lernen könnten, die Chancen und Schwierigkeiten der digitalen Transformation und die Modulation öffentlicher Räume. Zu jedem Gespräch wurden jeweils ein*e Agent*in aus Deutschland und Spanien sowie ein*e Kreative/r für eine themenbezogene künstlerische Intervention eingeladen.

Um die Gesprächsreihe mit einer allgemeinen Idee zu beginnen, nämlich wie die Pandemie kulturelle Praktiken und Forschung in digitalen Bereichen verstärkt hat und wie dies zu sehr gegensätzlichen Standpunkten geführt hat, die auf Liebe oder Hass gegenüber Online-Erfahrungen basieren, wurde das erste Gespräch mit einer Frage eröffnet: WIR LIEBEN DIE DIGITALITÄT. LIEBT DIE DIGITALITÄT UNS AUCH? Dabei wollten wir mit der Wirkung der Digitalität und mit dem Umstand spielen, dass unsere mit der digitalen Welt verbundenen Gefühle und Erfahrungen vielfältig und oft sehr stark sind.

Um in dieses vielschichtige Thema einzusteigen, haben wir Mónica Rikić (Medienkünstlerin und Creative Coder) eingeladen, die das Gespräch mit einer künstlerischen Intervention eröffnet hat, sowie Judit Carrera (Direktorin des CCCB) und Priv.-Doz. Dr. Martina Leeker (Künstlerin und Forscherin). Unser gemeinsames Gespräch begann mit diesen Fragen: Wie kann ein multidisziplinäres Kulturzentrum seine Wissensproduktion von analog zu digital verlagern? Und wie verschiebt sich der Inhalt? Wie verschiebt sich der Raum? Wie verschiebt die Digitalität die Wahrnehmung und die Inszenierung des darstellenden Körpers?

Für das zweite und dritte Gespräch wollten wir einen spezifischeren Ansatz, weswegen wir sie LET'S DEAL WITH IT genannt haben, wobei es bei jedem Gespräch um ein spezifisches Thema ging: „Die digitale Transformation der darstellenden Künste“ und „Der öffentliche Raum als kulturelle Plattform“. Gäste des zweiten Gesprächs waren Fefa Noia (stellvertretende Leiterin des Centro Dramático Nacional), Jun. Prof. Dr. Konstanze Schütze und Alla Popp (beide vom Festival 'dgtl fmnsm'). Wir luden sie dazu ein, ein Gespräch zu führen, in dem sie ihre Überlegungen und Perspektiven zum Thema darstellende Künste und Digitalität austauschten. Das Gespräch wurde mit einer künstlerischen Intervention von Laia Duran (Tänzerin und Kreative) eröffnet, die damit eine für die Erörterung dieser Fragen geeignete Atmosphäre geschaffen hat: Welche Chancen bietet die Online-Programmierung für Ihre Kulturinstitution? Wie halten Sie den Kontakt mit dem Publikum? Wie gehen Sie damit um, online zu arbeiten, um online zu sein? Wie schaffen Sie einen feministischen Gemeinschaftsraum? Wie schaffen Sie eine gemeinschaftliche Begegnung?

Als Kuratorinnen dieser Gesprächsreihe wollten wir auch eine Sichtweise zur Nutzung und zur potenziellen Nutzung aufzeigen, die öffentlicher Raum vor der Pandemie hatte, in deren Verlauf gerade hat und nach ihrem Ende haben wird. Dazu haben wir für das dritte Gespräch Alina Stockinger (Gründerin und Mitglied von Eléctrico 28) eingeladen, die eine künstlerische Intervention im urbanen Raum für ein digitales Publikum präsentiert hat. Darüber hinaus standen uns Anna Giribet (künstlerische Leiterin des Theaterfestivals Fira Tàrrega) und Kathrin Tiedemann (künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin des FFT (Forum Freies Theater) Düsseldorf) für eine Debatte über folgende Fragen zur Verfügung: Was sind die Besonderheiten des öffentlichen Raums als kulturelle Bühne? Was kann jenseits der konventionellen Spielstätten gemacht werden? Wer ist dann das Publikum? Welchen Nutzen bieten die gemeinschaftlichen und kollektiven Zugänge zum Stadtraum?

Die Durchführung dieses Events war erfolgreicher als erwartet. Unser Hauptanliegen war es, Kulturschaffende in einem digitalen Raum zusammenzubringen, um Ideen, Konzepte, Erfahrungen und Kunstwerke auszutauschen, und das auf eine sehr tiefgründige und fruchtbare Weise. Unser Publikum kam aus der ganzen Welt. Am Ende erkannten wir, dass ungeachtet der zu Beginn gestellten Hauptfrage weitere Fragen aufgekommen sind. Wir betrachten das als Qualitätsmerkmal, da es immer gut ist, sich zu öffnen, unsere Praktiken zu hinterfragen und uns weiterzuentwickeln. Ohne zu versuchen, auf jede einzelne, in den Gesprächen formulierte oder beantwortete Frage einzugehen, möchten wir unsere eigene Vision der verschiedenen Punkte sowie des Gelernten und neu Gedachten wiedergeben, dem wir in den drei Gesprächen begegnet sind und bei denen ergänzend Themen, Visionen und Perspektiven angesprochen wurden.

Schauen wir uns also an, welche verschiedenen Sichtweisen bezüglich der digitalen Welten und dem öffentlichen Raum für kulturelle Praktiken wir nach unseren Gesprächen mit Judit Carrera, Martina Leeker, Mónica Rikić, Fefa Noia, Konstanze Schütze, Alla Popp, Laia Durán, Anna Giribet, Kathrin Tiedemann und Alina Stockinger teilen. Dazu konzentrieren wir uns im zweiten Teil dieses Textes auf drei Punkte: Wie der Lockdown den Digitalisierungsprozess beschleunigt hat, wie die Digitalisierung die Art und Weise verändert, mit der wir uns gegenüber kulturellen Erfahrungen verhalten und wie der öffentliche Raum als Kontaktzone für kulturelle Erfahrungen genutzt werden kann. Diese Überlegungen sollen dazu dienen, die Herausforderungen und die Chancen zu übermitteln, die diese kontroverse Zeit für Kulturagenten und -agentinnen gebracht hat.

Einerseits stimmen wir alle darin überein, dass die Digitalisierung, wie Judit Carrera gesagt hat, „ein bekanntes Szenario ist, das für Kulturinstitutionen nicht neu ist“. Gleichwohl hat die Pandemie die bereits begonnene digitale Revolution beschleunigt. Wir wollen sie also als einen Prozess und nicht als vorübergehendes Phänomen sehen. In den letzten Jahrzehnten haben wir erlebt, wie die technische Revolution die Art und Weise, mit der wir Kultur, Wissen und Kreativität produzieren, darauf zugreifen, verbreiten und sammeln, verändert hat. Dieser Umstand hat mit dem Begriff des Internets zu tun, und zwar „ist es nicht das Internet“, wie Konstanze Schütze hervorgehoben hat, „sondern eher eine Einstellung". Darüber hinaus muss unterstrichen werden, dass dem Internet oder der entsprechenden Einstellung eine eigene Kraft innewohnt, da es unser tägliches Leben ständig verändert, und das nicht nur während einer Pandemie. Wir alle wissen aber, dass dies lediglich aufgrund der eingeschränkten Situation, in der wir gelebt haben, wahrnehmbarer geworden ist.

Irgendwie hat das Bedürfnis, während des Lockdowns am selben Ort zusammen zu sein und eine kulturelle Erfahrung zu teilen, dazu geführt, dass wir nach Werkzeugen und anderen Wegen gesucht haben, um dieses Zusammenkünfte zu ermöglichen. Wir haben also die Tools, die uns die Digitalisierung zum Treffen und Austausch bietet, verwendet, wir haben sogar Fernbeziehungen geführt, und wie Martina Leeker hervorgehoben hat, ist mit dem Digitalen ein neuer geteilter Raum entstanden: Zeitzonen; sie nannte es eine neue Form des Lebendigseins.

Das wirft Fragen wie diese auf: Wie können wir dieselbe Zeit, aber nicht den denselben Ort teilen? Wie kann das Teilen des Bildschirms zu Zerrüttung führen? Ist der digitale Raum für alle zugänglich? Es gibt Nachteile, die hier zutage treten, zum Beispiel Voreingenommenheit bei der Programmgestaltung, wie zahlreiche Diskussionen über rassistische Algorithmen zeigen. Und was ist, wenn gar kein Gerät vorhanden ist? Nicht alle Menschen verfügten während des Lockdowns über einen direkten Zugang zu digitalen Tools. Wie können wir also trotz aller Hindernisse in Verbindung bleiben und die digitalen Türen geöffnet lassen? Zu guter Letzt muss man die Wechselwirkung zwischen Mensch und Maschine hinterfragen. Dazu greifen wir das Zitat eines Gesprächsgastes, Nil Martín, auf: „Solange wir Menschen digital lieben und hassen, kommen diese Liebe und dieser Hass digital zu uns zurück...". Kümmern wir uns also um unsere Liebes- und Hasserfahrungen in der digitalen Welt!

In diesem Zeitraum haben Kulturschaffende nach neuen digitalen Wegen gesucht, um Verbindungen zu kulturellen Erfahrungen herzustellen, und das führt zu neuen Szenarien, die wir uns vor zwei Jahren nicht haben vorstellen können. Bei der zweiten Veranstaltung hat Fefa Noia, stellvertretende Leiterin des Centro Dramático Nacional, beschrieben, wie die Institution ihre Aktivitäten unter dem Motto #LaVentanaDelDramatico fortführte, während Veranstaltungsorte geschlossen waren. Ihre Institution konnte auf mehreren Ebenen Reichweite kreieren, indem Fachrichtungen vermischt, Dialoge zwischen Menschen (und nicht nur im Rahmen der darstellenden Künste) kreiert wurden und man sich an neuen Formaten versucht hat, die die Gefühle der Menschen zu diesem besonderen Lockdown-Zeitpunkt widerzuspiegeln.

Gleichwohl ist für das Theaterformat ein Dialog zwischen digitalen und Live-Events immer kompliziert, da eine Live-Situation zur Essenz des Theaters gehört: Die Präsenz einer Situation zu sehen, zu hören, zu riechen und zu spüren, den Raum bei einem gemeinsamen Augenblick zu teilen, kann nicht durch die Übertragung auf digitale Geräte ersetzt werden. Die digitale Transformation der darstellenden Künste darf nicht dazu führen, dass Live-Events durch digitale Events ersetzt werden. Digitale Tools und Formate waren dafür eine temporäre Lösung, aber Online-Angebote haben nie die Live-Veranstaltungen ersetzt. Es besteht immer noch ein Bedarf an menschlichen Begegnungen, aber die mit COVID-19 verbundene Krise hat die Möglichkeit eröffnet, neue Wege von Beziehungen auszuprobieren, die man sich vorher nicht vorstellen konnte.

Im Rahmen der digitalen Transformation hat das Kollektiv dgtl fmsm seine Interventionen darauf konzentriert, die Konzepte Performativität und Digitalität miteinander zu verschmelzen. Sie konzentrierten ihre Arbeit auf die Unmöglichkeit von Performativität in der digitalen Welt, während sie gleichzeitig Landschaften kreiert haben, die von einem unvoreingenommenem Zugang durchdrungen waren. Das hat grundlegende Fragen zu Praktiken im Zusammenhang mit der Schaffung von Räumen innerhalb der Institutionen, die sich mit der digitalen Welt auseinandersetzen, aufgeworfen: Wie einen Raum öffnen, ohne ihn zu schließen? Wie sorgt man für einen inklusiven und zugänglichen digitalen Raum? Wer kann daran teilnehmen? An welche Zielgruppe richtet er sich? Und an welche nicht? Wie schafft man einen virtuellen Raum und erhält ihn aufrecht? Wie wird eine Gemeinschaft im virtuellen Raum aufgebaut? Wie werden nachhaltige Netzwerke mit unterrepräsentierten Schauspieler*innen und Stimmen aufgebaut?

Künstler*innen, Forscher*innen und Kulturagenten und -agentinnen benötigen sicherlich mehr Zeit und mehr digitale Erfahrungen, um auf all diese Fragen klare Antworten zu haben. Und auch weitere Erfahrungen wie diese Gesprächsreihe, um sich über Praktiken, Sichtweisen und Bedenken auszutauschen. Manchmal können sie den Umstand einer einseitigen Programmgestaltung, zum Beispiel, nicht ändern. Aber sie können die Aufmerksamkeit darauf lenken. Die Digitalisierung ist ein Prozess, der mit oder ohne unsere Teilnahme stattfindet. Aber wenn wir dran teilnehmen, dann müssen wir Praktiken, Logiken und Hegemonie berücksichtigen; und da gibt es noch viel auszuprobieren.

Wir können diesen Punkt nicht abschließen, ohne den Fokus auf die Konsequenzen der digitalen Transformation für das Publikum zu lenken: Der Kontakt mit einer Kulturinstitution wird zu einem einfachen Wischen mit dem Zeigefinger auf unseren digitalen Geräten. Wenn der Zugang zu Filmen, Ausstellungen oder Tanzvorstellungen nur über diese Schnittstelle möglich ist, verändert sich die Beziehung zwischen dem Produzenten und dem Publikum. Judit Carrera führt dazu aus: "Das Ende der Dichotomie zwischen dem Produzenten und dem Publikum, die uns dazu gebracht hat, mehr horizontale, mehr offene und mehr partizipatorische Räume zu fördern. Kulturgebäude sind keine Kulturtempel mehr, sondern intersektionale Räume für Austausch, Dialog, öffentliche Gespräche und Treffen, aber nicht unbedingt enzyklopädische, altmodische Kulturinstitute mehr".

Lassen Sie uns also mit dem Finger über das Display wischen, hin zu jenen Erfahrungen, bei denen Publikum mitmachen kann, das bislang höchstwahrscheinlich aufgrund der Tatsache nicht teilgenommen hat, weil es ein Theater im richtigen Leben nicht kennt oder von diesem verunsichert ist. In diesem Fall wird die Beziehung einfacher, denn sie könnte lediglich einen Klick entfernt sein, aber gleichzeitig auch schwieriger, denn auch das nächste Event ist nicht mehr als ein Klick entfernt.

Abschließend wollen wir über die Nutzung des öffentlichen Raums als Kontaktzone für kulturelle Erfahrungen sprechen. Es ist allseits bekannt, dass Künstler*innen und Kulturinstitutionen während des Lockdowns ihre Arbeit in den öffentlichen Raum verlegten: Balkone, Dachterrassen, Straßen, Plätze, Kirchen und Garagen tauchten als mögliche Bühnen auf. Die Straßen waren aber weder vor noch während der Pandemie leer, worauf Anna Giribet im dritten Gespräch hingewiesen hat: „Wir müssen auf den Umstand achten, dass es bereits eine Gruppe von Künstlern und Künstlerinnen gibt, die jetzt auf den Straßen und im öffentlichen Raum arbeiten und das auch bereits früher schon getan haben".

Heutzutage ist die Straße mit all ihren Möglichkeiten ein zentrales Thema, und eines der positiven Aspekte dieser furchtbaren Pandemie ist, dass nach Aussage von Anna Giribet die Menschen gemerkt haben, wie wichtig der öffentliche Raum im Leben ist, als gemeinsames Gut, als ein Ort des kulturellen Austausches, als Treffpunkt für neue Bekanntschaften, für ältere Menschen, für jüngere Leute, die den Hund ausführen, und es ist ein Raum der Freiheit. Andererseits haben wir auch entdeckt, wie sehr der öffentliche Raum durch Überwachung kontrolliert und reglementiert wird.

Das führt uns zu den durch Kathrin Tiedemann aufgeworfenen Fragen, die uns dabei helfen, in unseren Überlegungen voranzukommen: Wem gehört der öffentliche Raum wirklich? Gehört er dem/der Künstler*in? Gehört er einfach jedem? Oder ist er vielleicht immer mehr zu einem Raum geworden, der zum privaten Raum wird, weil er im Besitz von Investoren ist, und Investoren großen Einfluss darauf haben, was öffentlich aussieht, es aber nicht mehr ist?

Unsere im dritten Gespräch geführten Debatten und der erfolgte Austausch haben uns bewusst gemacht, dass trotz der benötigten Nutzung des öffentlichen Raums als Kontaktzone, im Verständnis eines sozialen Raums, in dem sich verschiedene Kulturen treffen, austauschen und diskutieren können, noch viel zu tun ist. Letzten Endes haben Gemeinschaftsräume ein Nutzungspotential, dass wir Bürger noch nicht erschlossen haben.

Zusammenfassend und angesichts all dessen, was wir unter der Überschrift MELTING SPACES geteilt haben, hat die Pandemie in gewisser Weise die Frage beschleunigt, wie wir zum Teilen von kulturellen Erfahrungen zusammen sein können und wie wir Kontaktzonen einrichten können, wenn wir uns nicht an einem traditionellen Ort treffen können. Wir stimmen darin überein, dass die jüngsten pandemiebedingten Einschränkungen auf die Formen von Beziehungen in digitalen und öffentlichen Räumen wie ein Katalysator gewirkt haben. Diese Art von Vorschlägen gab es bereits, aber durch die Situation haben sich neue Szenarien sowie neue Wege des entsprechenden Zugangs ergeben. Gleichzeitig sind eine Menge Bedenken, Fragen und widersprüchliche Gefühle darüber entstanden, wie wir diese lieben und hassen. Wie Alla Popp im zweiten Gespräch gesagt hat: „Es hängt von der Sichtweise ab“. Sie glaubt nicht, dass das Digitale jemals in der Lage sein wird, die physische Begegnung, wie wir sie heute kennen, zu ersetzen, aber es eröffnet neue Möglichkeiten, die auch Optionen sind....

Es ist wichtig hervorzuheben, dass digitale und öffentliche Räume auch Orte des Engagements und der öffentlichen Interaktion sind. Ein öffentlicher Raum ermöglicht dem Einzelnen, im Vergleich zum privaten Raum, verschiedene Rollen zu spielen. Dasselbe gilt auch für den digitalen Raum, da er einen Zugang mit verschiedenen körperlichen Fähigkeiten ermöglicht. Und nicht zu vergessen: Online-Räume sind auf gewisse Weise gleichzeitig öffentlich und privat; sie ermöglichen die Teilnahme verschiedener Publikumsgruppen in derselben Zeitzone.

Gleichwohl, und wir haben es bereits erwähnt, ist Technologie keineswegs neutral. Im Gegenteil, es geht darum, wer Zugang zur Technologie hat, wer sie kreiert und wer über entsprechende Kenntnisse verfügt. Es muss unterstrichen werden, dass dies auch auf die Definition, was Kunst ist und was nicht, zutrifft. Wie dies: Wie können wir Technologie nutzen? Was können wir lernen, wenn wir uns mit Technologien in den (darstellenden) Künsten auseinandersetzen?

Darüber hinaus haben die Gespräche einen dritten Raum eröffnet, in dem wir kommunizieren, uns austauschen, uns selbst inspirieren und von anderen inspirieren lassen können.

Wir haben gespürt, wie sehr wir die Anwesenheit des jeweils anderen im selben Raum vermisst haben. Gleichzeitig sind Begegnungen entstanden, die im wirklichen Leben nicht so einfach möglich gewesen wären. Darüber hinaus möchten wir darauf hinweisen, dass jenseits der physischen Welt dem Aufbau von Netzwerken eine Schlüsselrolle zukommt. Wir stimmen mit Judit Carrera überein: „Die künftige Erfahrung darstellender Künste wird eine Mischung aus digitaler und realer Welt sein“. Kulturelle Räume haben eine politische Dimension, da öffentliche und digitale Räume auch privatisiert und weniger öffentlich sind, als wir denken: Wir müssen also für diese Gemeingüter kämpfen.

Zusammenfassend haben wir vier Punkte formuliert, im Zusammenhang mit denen wir Sie dazu einladen, diese zu lesen, darüber zu diskutieren, sie zu teilen und weiterzuentwickeln:

1) Digitalität ist eine komplizierte Sache, die die komplexe Realität der modernen Gesellschaft widerspiegelt. Sie macht diese sogar noch komplexer und fügt ihr eine weitere Schicht hinzu. Wir müssen sie verstehen, werden aber gleichzeitig nie in der Lage sein, sie vollständig zu verstehen (so wie Maschinen sich selbst genauso wenig verstehen).

2) Die Erstellung, Planung und Umsetzung einer transnationalen, ausschließlich online stattfindenden Gesprächsreihe bringt ganz unterschiedliche Herausforderungen für das ganze Team mit sich.

3) Wie können öffentliche Institutionen, die Kultur im Ausland fördern, heutzutage Kulturagenten und -agentinnen unterstützen? Eine offene Frage, der man sich unserer Meinung nach einfacher nähern kann, wenn man mehr als vorher die lokalen und globalen Phänomen des digitalen Zustands berücksichtigt. Eine offene Frage, deren Beantwortung unserer Meinung nach einfacher ist, wenn lokale und globale Phänomen des digitalen Zustands berücksichtigt werden.

4) Wir brauchen gemeinsame Räume, in denen wir uns sowohl im richtigen Leben als auch online treffen können, die wir teilen und in denen wir leben können. Lassen Sie uns Optionen kreieren, statt über diese zu klagen oder sie sogar zu verlieren. Schlussendlich werden diese Kätzchen zu Katzen...

Dies ist eine Einladung, Räume mit Institutionen, Künstler*innen, Performer*innen, Kulturagenten und -agentinnen, Erzieher*innen, Theoretikern und Theoretikerinnen sowie Freunden und Freundinnen der darstellenden Künsten zu teilen: LET’S MELT SPACES!


ANHANG

Bei dieser Gesprächsreihe hat es sich um eine transnationale Zusammenarbeit gehandelt, die ohne digitale Tools nicht möglich gewesen wäre. Bis heute haben wir auf Distanz per Videokonferenzen, Chat-Programmen und geteilten Dokumenten zusammengearbeitet. Dies gilt für fast das gesamte Team, das diese Gespräche möglich gemacht hat. Ein großes Dankeschön an Ester Criado, Teresa Carranza Ramos, Iolanda Batallé, Silvia Gonzales und Sophia Jereczek vom Institut Ramon Llull; und Ursula Wahl vom Goethe-Institut.

Die Gesprächsreihe war ein Gemeinschaftsprojekt vom Institut Ramon Llull und dem Goethe-Institut Barcelona. Wir möchten beiden für ihr Vertrauen in uns und dafür, dass man uns beim Gesprächsformat und bei der Gästewahl freie Hand gelassen hat, herzlich bedanken.


Biografien der Teilnehmer*innen

Judit Carrera ist Direktorin des Centre de Cultura Contemporànea de Barcelona (CCCB), ein multidisziplinäres Kulturzentrum, das sich mit den entscheidenden Herausforderungen der modernen Gesellschaft über verschiedene Sprachen und Formate auseinandersetzt. Wir haben sie eingeladen, da wir uns von ihr eine tiefgreifende und offene Sicht darauf wünschten, wie die aktuelle Situation in zahlreichen kulturellen Bereichen die Beziehung der Künste und des Publikums zur Digitalität verändert hat.

Laia Durán ist Tänzerin, Kreative, Tanzlehrerin und Bewegungsassistentin. Als Performerin hat sie in Ensembles in der Schweiz, Deutschland, Niederlande und Dänemark sowie in Spanien bearbeitet. Seit 2012 gehört sie zum Ensemble La Veronal. Und sie hat HOTEL Colectivo Escénico kreiert.

Anna Giribet ist künstlerische Leiterin des Theaterfestivals Fira Tàrrega, nachdem sie vorher bereits die stellvertretende künstlerische Leitung innehatte. Fira Tàrrega ist ein internationaler Markt für darstellende Künste mit Schwerpunkt auf der Internationalisierung von Kreativen und der Bildung von strategischen Allianzen, um internationale Straßenkunst-Produktionen und -Tourneen zu entwickeln.

Gila Kolb ist eine forschende Kunstpädagogin. Sie leitet die Forschungsprofessur Fachdidaktik der Künste an der PH Schwyz. Sie ist Mitbegründerin der Agentur für Kunstvermittlung agency art education und Herausgeberin des dreisprachigen Interview-Blogs The Art Educator’s Talk. Ihre Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind Zeichnen können im Kunstunterricht; Strategien und agency von Kunstvermittler*innen; Verlernen; Bedingungen einer postdigitalen Kunstpädagogik.

Martina Leeker ist Forscherin und Performerin. Sie forscht zu Performativität und Digitalität, sowohl als akademische Disziplin als auch in den Werken. Sie ist also eine Expertin für Inszenierungen & performative Körper & Digitalität.

Fefa Noia hat als Regisseurin, Autorin, Dramatikerin und Übersetzerin gearbeitet, und gegenwärtig ist sie stellvertretende Direktorin des Centro Dramático Nacional, nachdem sie vier Jahre dem Centro Dramático Galego vorgestanden hat.

Alla Popp ist eine digitale Medien- und Performance-Künstlerin. Ihre feministische Sichtweise konzentriert sich hauptsächlich auf die Fortschritte in der digitalen Technologie, in einer Debatte mit den Theorien und Phänomenen, die unsere künftigen Visionen abbilden.

Konstanze Schütze ist Kuratorin und Kunstpädagogin und Junior-Professorin, die unterrichtet und im Bereich Kunstvermittlung, Kunsterziehung und Medientheorie forscht. Sowohl Alla als auch Konstanze gehören der queer-feministischen, postdigitalen performativen Kunstplattform und -kollektiv 'dgtl fmnsm' an.

Mónica Rikić ist eine Medienkünstlerin, die in Barcelona lebt und arbeitet. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf Codes, Elektronik und nicht digitalen Objekten zur Kreation von interaktiven Projekten, die oft als experimentelle Spiele konzipiert sind. Sie interessiert sich für die gesellschaftliche Bedeutung von Technologie, die Koexistenz von Mensch-Maschine-Mensch und die Wiederaneignung von technologischen Systemen, um sie durch die Kunst zu überdenken. Ihre Projekte von pädagogischen Ansätzen bis sozialwissenschaftlichen Versuchen schlagen neue Wege der Interaktion mit dem uns umgebenden digitalen Umfeld vor.

Alina Stockinger ist Gründerin und Mitglied von Eléctrico 28, einem Theaterkollektiv, das das Ökosystem des täglichen menschlichen (und tierischen) Lebens, dargestellt in Form von mit Herz und Humor gestalteten immersiven Street Art-Performances wie [ The Frame ] und Stellar Moments of Humanity im Blick hat.

Kathrin Tiedemann ist seit August 2004 künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin des FFT (Forum Freies Theater) Düsseldorf. Das FFT ist ein Produktions- und Veranstaltungsort für darstellende Künste, das in ganz Deutschland und auch international tätig ist, mit besonderem Schwerpunkt auf darstellenden Künsten für ein junges Publikum.

Aina Tur ist Dramatikerin und Kulturmanagerin. Derzeit betreut sie die Programmgestaltung von Sala Beckett/Obrador Internacional de Dramatúrgia und ist Beiratsmitglied des Centro Dramático Nacional. Sie hat Theaterstücke, Romane und Essays veröffentlicht. Sie hat einen Abschluss in katalanischer Sprache und Literatur (Universitat Oberta de Catalunya) und in Projektmanagement (Universidad de Deusto). Darüber hinaus hat sie ein Schauspiel- (Col·legi de Teatre de Barcelona) und Dramaturgiestudium (Sala Beckett) absolviert.

Diese Website verwendet lediglich Session-Cookies zu technischen und analytischen Zwecken. Es werden ohne entsprechendes Einverständnis der Nutzer keinerlei personenbezogene Daten erhoben oder abgetreten. Es werden jedoch zu statistischen Zwecken Cookies Dritter verwendet. Für nähere Informationen, Datenverwaltung oder Widerspruch können Sie „+ Info“ anklicken.